Bunte Grafik vor schwarzem Hintergrund

Die Digitalisierung ist weder Utopie noch Dystopie

Portraitfoto Victor Weber
Wenn es um Digitalisierungsfragen geht, fällt die Unterscheidung zwischen Hype und ernstem Zukunftsthema manchmal schwer.

Daher ist es wichtig, nicht nur über „die Digitalisierung“ als Massenphänomen zu sprechen, sondern auch genauer auf einzelne Aspekte einzugehen. Viktor Weber, Gründer des Future Real Estate Institute, hat sich die Zeit für ein ausführliches Interview zu diesem Thema genommen.

Welche Digitalthemen werden die Zukunft mittel- bis langfristig prägen?

Zunächst möchte ich einige Worte zum Themenkomplex „Hype“ verlieren. Es gibt den positiven Digitalisierungshype mit seinen Versprechen einer technologiebedingten besseren Zukunft. Gleichermaßen existieren Dystopien, die den Menschen als Opfer einer flächendeckenden Automatisierung beschreiben oder anderweitig Ängste schüren. Die Aussagen prominenter Digitalisierungskritiker 1 und Digitalisierungsbefürworter 2 beruhen oftmals nicht auf technologischem Fachwissen oder sind von kommerziellen Interessen geprägt.

Auch die Wirtschaft ist davor nicht gefeit. Man investiert in Technologien, deren Chancen und Risiken medial verklärt wurden, und wundert sich, wieso ein Projekt nicht den erwarteten Erfolg liefert oder eine digitale Transformation scheitert. Die Lösung des Problems ist die Aneignung von eigener digitaler Kompetenz. Entscheider aus Wirtschaft und Politik sowie Meinungsmacher des öffentlichen Lebens sollten die Chancen und Risiken einer Technologie verstehen können. Ist diese Kompetenz nicht vorhanden, bedarf es fachlicher Beratung und einer guten Wissensbildungsstrategie. Bildung von digitaler Kompetenz sollte also dauerhaft, nicht nur über einen beschränkten Zeitraum, ein dominierendes Thema der Digitalisierung sein.

Aus technologischer Sicht werden Datengewinnung und -verarbeitung, künstliche Intelligenz und IT-Sicherheit die prägenden Themen der nahen Zukunft sein. Später könnten synthetische Biologie und Quanten-Computing maßgeblich sein. Erstere beschäftigt sich mit der Herstellung biologischer Systeme, die nicht in der Natur existieren. Letztere ist eine Form der Computerarchitektur, die nicht auf digitalen Prinzipien basiert. Damit Unternehmen von technologischen Trends profitieren können, müssen sie sich ganzheitlich transformieren. Das umfasst die digitale Ausbildung aller im Unternehmen vom Trainee bis zum CEO, die Schaffung moderner Arbeitswelten und eine Veränderung der Unternehmenskultur beziehungsweise des Managements.

Wie stark fällt die menschliche Komponente dabei ins Gewicht?

Die Digitalisierungsdebatte sollte nicht rein technologiezentriert geführt werden. Wesentlich spannender sind soziale und ökologische Implikationen. Im Hinblick auf den sozialen Frieden sehe ich eine gewaltige Herausforderung, weil die Digitalisierung auch ein Treiber von sozialer Ungleichheit ist 3. Da viele digitale Konzepte leicht skalierbar sind, profitieren wenige Stakeholder überproportional stark vom Erfolg eines solchen Konzepts. In Deutschland haben die reichsten 45 Haushalte so viel Vermögen wie die weniger wohlhabende Hälfte aller Deutschen 4. Die Digitalisierung verstärkt diese Entwicklung, sodass die soziale Ungleichheit zunimmt. Folglich sind Nachhaltigkeit, Sozialverträglichkeit, Gerechtigkeit und individuelle Freiheit genauso relevante Digitalthemen wie künstliche Intelligenz, Blockchain und Co.

Ähnlich wichtig ist auch die Frage nach dem Datenschutz: Die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hat bereits andere Regierungen inspiriert, unter anderem die des US-Bundesstaats Kalifornien, die bereits ein ähnliches Gesetz entworfen hat. 2019 und 2020 wird Regulierung hierzulande ein wegweisendes Digitalisierungsthema sein. Dann wird sich zeigen, ob die angedrohten Strafen bei Verstößen tatsächlich verhängt werden. Wäre dem so, würden sich die beiden Themen IT-Sicherheit und verantwortungsvoller Umgang mit Daten endlich auf Vorstandsebene zu einem Kernthema aufschwingen, in das auch mehr investiert würde. Im Kontext von Smart Home und Smart City wird das für Kommunen und Unternehmen entscheidend sein.

„Stadt oder Objekteigentümer müssen personell aufstocken, um Sicherheitslücken zu schließen.“

Viktor Weber, Gründer Future Real Estate Institute

Wie „smart“ werden unsere Verträge und Gebäude wirklich?

Die Vision, dass Menschen mit Menschen, Menschen mit Maschinen oder sogar Maschinen mit anderen Maschinen zumindest teilautomatisiert rechtsgültige Verträge schließen, ist extrem spannend. Jedoch ist das technisch noch nicht möglich, da die aktuellen Programmiersprachen die Komplexität der Rechtsprechung und die Interpretierbarkeit von Recht nicht abbilden können. Ferner sind smarte Verträge Software, und Software kann Fehler aufweisen oder gehackt werden. Wir müssen einheitlich geltende rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, Haftungsfragen abschließend klären, in Grundlagenforschung investieren – beispielsweise eine Programmiersprache für Vertragswerke – und entsprechende Versicherungen etablieren, um das mögliche Potenzial von smarten Verträgen zukünftig nutzbar zu machen 6.

Hinsichtlich smarter Gebäude und Infrastruktur kommt es darauf an, wie man Smartness definiert. Für mich ist ein Objekt, egal ob Immobilie oder Uhr, erst dann smart, wenn es Daten erhebt, Algorithmen-gestützt Entscheidungen trifft und sich selbstständig optimiert, um die Wünsche seines Nutzers personalisiert zu erfüllen. Statisch agierende Komponenten aus dem Bereich Smart Home sind also nicht wirklich smart, auch wenn sie als solche vermarktet werden. Jedoch sollte diese technologie-fokussierte Definition nicht das alleinige Maß von echter Smartness sein. Eine intelligente Lösung zu einem Problem kann schließlich auch analog sein und sollte genauso aus ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Sicht smart sein.

Smarte Komponenten bieten viele Vorteile, seien es Einsparungen von Ressourcen, Fernwartung von technischen Komponenten oder Services für Immobiliennutzer beziehungsweise Stadtbewohner. Doch Smart Home und Smart City verursachen erhebliche Kosten. Nutzer bezahlen neben Anschaffungs- und Betriebskosten vor allem mit ihren Daten, die teils intransparent genutzt werden. Stadt oder Objekteigentümer müssen für die Wartung der Systeme sorgen, welche das Schließen von Sicherheitslücken durch Patches und Updates beinhaltet 7. Dafür muss personell aufgestockt werden. Hersteller smarter Komponenten müssen zudem deren langfristige Betreuung garantieren und Ersatzteile vorhalten.

Werden Mensch und Maschine bald Verträge schließen?

Das ist alles sehr komplex und bedeutet anfangs offenbar erheblich mehr Aufwand. Erleben wir bald eine analoge Gegenbewegung?

Es gibt starke DIY-, Maker- und sonstige Bewegungen, die lieber unvollkommene Produkte aus Menschenhand verwenden als unpersönliche Massenware. Andere Bewegungen wollen aus unserem gegenwärtigen Arbeits- und Konsumsystem ausbrechen. Diese Gegenkulturen könnten Rückkopplungen auf das Wirtschaftssystem und die Digitalisierung haben. Persönlich denke ich, dass eine analoge Gegenbewegung erst dann an Schwung gewinnen würde, wenn der erste Smart-City-GAU kommt oder der subjektiv wahrgenommene Verlust von Privatsphäre für eine kritische Masse nicht mehr auszuhalten ist. Es könnte aber auch sein, dass die Menschheit bereit ist, mit solchen Negativkonsequenzen zu leben, da die Vorteile überwiegen oder die persönlichen Grenzen der Tolerierbarkeit sukzessive verschoben werden.

Was dürfen wir von der künstlichen Intelligenz erwarten? Und wo sorgt das analoge Produkt „Immobilie“ für Grenzen?

Die Nutzung von KI wird zunehmen und unseren Alltag stetig verändern. Schon heutzutage vertrauen wir auf Empfehlungssysteme in der Navigation (Google Maps), dem Einkaufen (Amazon), der Filmauswahl (Netflix) oder der Musikauswahl (Spotify). Windows Defender Advanced Threat Protection wird genutzt, um automatisiert Cyber-Bedrohungen zu erkennen, und medizinische Diagnosen werden computergestützt erstellt. KI ist bereits allgegenwärtig und die Anwendungsmöglichkeiten werden immer mehr, was auch an der quantitativen und qualitativen Zunahme von Daten sowie einer leistungsfähigeren Hardware liegt. Im Gegenzug gibt es etliche kompetente Wissenschaftler, die vor den Risiken einer unkontrollierten KI-Nutzung warnen. Hier müsste sich auch die Politik einbringen und klare Rahmenbedingungen schaffen.

Es ist nicht sinnvoll, aktuell über theoretische Grenzen von künstlicher Intelligenz im Kontext der Immobilienbranche zu reden, da sie dort gerade erst Einzug hält. Spannend sind automatisierte Immobilienbewertung und Gebäudesteuerung, um Ressourcen nachhaltiger zu nutzen, oder Simulationen für stadtplanerische Zwecke. Auch halte ich generative KI für wahrscheinlich, die Objekte architektonisch konzipiert und deren Statik rechnet. Falls sich digitale Arbeitsmodelle durchsetzen oder die Arbeitswelt strukturell verändert, wird es Verschiebungen hinsichtlich der Flächennachfrage geben.* Zudem werden sich die Anforderungen an die Gebäudeausstattung verändern. Grundsätzlich sind der Kreativität hier keine Grenzen gesetzt.

1 Vgl. z.B. Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker. 2018
2 Vgl. z.B. Don & Alex Tapscott: Blockchain Revolution. 2018
3 Vgl. Eduardo Rodriguez-Montemayor: How the Digital Economy has Exacerbated Inequality. knowledge.insead.edu/responsibility/how-the-digital-economy-has-exacerbated-inequality-9726
4 Vgl. Florian Diekmann: 45 Deutsche besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/vermoegen-45-superreiche-besitzen-so-viel-wie-die-halbe-deutsche-bevoelkerung-a-1189111.html
5 Vgl. Viktor Weber: Blockchains bekömmlich erklärt. www.irebs-immobilienakademie.de/aktuelles-bei-irebs/irebs-standpunkt/irebs-standpunkt-nr-73/
6 Vgl. Viktor Weber: Is your smart home as safe as you think? www.weforum.org/agenda/2018/09/is-your-smart-home-as-safe-as-you-think-internet-things/
7 Vgl. Viktor Weber: It’s time to dispel the myths of automation www.weforum.org/agenda/2017/10/the-true-complexity-of-automation/