Grafik von verschiedenen Nutzungen und Aktivitäten in einer Großstadt

„Völlig überholt und wirklichkeitsfremd“

Interview mit Professor Jörn Walter und Cornelia Zuschke

Portraitfoto von Susanne Heck, Leiterin Marketing & Kommunikation
Die Notwendigkeit, neuen Wohnraum zu schaffen, ist in aller Munde. Bleibt da noch Platz fürs Gewerbe? Welchen Herausforderungen müssen sich Stadtplaner stellen, die eine echte Nutzungsmischung herstellen wollen?

Die zoOM-Redaktion sprach mit Oberbaudirektor Prof. Jörn Walter (Hamburg) und der Beigeordneten Cornelia Zuschke (Düsseldorf) über veraltete Gesetze, die eine Funktionsmischung in den Städten behindern, und über die Stadt der Zukunft.

Wie sieht die ideale urbane Stadt für Sie aus?

Walter: Ich tue mich schwer damit, die ideale Stadt zu beschreiben. Da spielen viele individuelle Einflussfaktoren hinein – ich möchte mich lieber auf den Begriff der Urbanität konzentrieren: Urbanität entsteht, wenn Menschen und Unternehmen aufeinandertreffen. Die urbane Stadt ist die lebendige, vielseitige Stadt und erfordert eine soziale, ökonomische und räumliche Dichte. Die Vielfalt und das Miteinander setzen produktive Kräfte frei.

Zuschke: Abstrakt betrachtet ist als Struktur die Stadt ideal, die sich aus der Kraft aller ihrer Potenziale weiterentwickelt und die Herausforderungen der Gegenwart annimmt. Konkreter gesagt ist die ideale Stadt die ganzheitliche Stadt. Alle Lebensbereiche – Arbeiten, Wohnen, Kultur, Freizeit – müssen in lebendigen Strukturen miteinander verwoben werden. Diese Mischung kommt aus dem Selbstverständnis der Stadt, ist sozusagen stadtimmanent. An dieses Modell der integrierten Stadt und der vollständigen, sich ständig wandelnden Urbanität glaube ich.

Und wenn wir Stadtviertel betrachten – gibt es hier für Sie gelungene Beispiele?

Walter: Da schaut man ja immer erst einmal nach Südeuropa, wo die kleinteilige Mischung in den Städten Tradition hat. Aber auch in deutschen Innenstädten gibt es gelungene urbane Areale: das, was vor dem 1. Weltkrieg gebaut worden ist. Erst nach dem 2. Weltkrieg ist die getrennte und damit eintönige Stadt entstanden. Jetzt bemühen wir uns in der Stadtplanung, die Funktionen wieder zusammenzubringen.

Zuschke: Städte, wie sie beispielsweise schon im Mittelalter als Abbildung aller Funktionen entstanden sind und unsere Kultur prägten, sind heute ein guter Anknüpfungspunkt für Funktionsvielfalt und öffentlichen Raum. Damals hat man dicht gebaut. Auch Düsseldorf hat etwas von diesem Patchwork an Funktionsbausteinen. Entstanden aus Orten der Industrie mit umlagernder Wohnbebauung wächst die Stadt nach und nach zusammen.

Wir können nicht mehr die unterschiedlichen städtischen Funktionen in getrennte städtebauliche Formen und Gebiete pressen.

Cornelia Zuschke, Beigeordnete Stadt Düsseldorf

Momentan hat man dennoch den Eindruck, dass sich alles nur noch ums Wohnen dreht und Gewerbe keinen Platz mehr hat.

Walter: Ja, den Eindruck könnte man gewinnen. Allerdings hat das viel mit Politik zu tun und mit dem, was in der Öffentlichkeit vordergründig besser ankommt. Aber der Bedarf an mehr Wohnraum und das Wachstum in den Städten zieht automatisch auch den Bedarf an stadtnahen Arbeitsplätzen nach sich. Deshalb werden die Stadtplaner weiterhin auf Mischung setzen. In Hamburg haben wir beispielsweise mit unserem Konzept „Stromaufwärts an Elbe und Bille“ Wohnen und urbane Produktion gleich gemeinsam betrachtet.

Zuschke: Es ist ein bisschen typisch für die deutsche Gründlichkeit, dass wir immer die Einzelfragen thematisieren und sorgfältig analysieren, aber dabei den Blick fürs Ganzheitliche verlieren. Wir können nicht mehr die unterschiedlichen städtischen Funktionen in getrennte städtebauliche Formen und Gebiete pressen. Hinterher heilen wir dann die Auswirkungen der Trennung durch Mobilität und Infrastruktur und wundern uns, dass wir nicht mehr klarkommen. Mobilitätstechnisch sind wir an der Grenze, und wenn wir Wohnen und Arbeiten weiter trennen, wird es noch schlimmer.

Gibt es eine optimale Gewichtung zwischen Wohnen, Büro, Gewerbe, Handel, Freizeit?

Zuschke: Optimal ist das, was in einer robusten Art zum Ort passt. Robuste städtebauliche Strukturen sind eine Garantie dafür, dass Wandlungsfähigkeit erhalten bleibt. Veränderungen müssen verkraftet werden, ohne dass wir dafür ständig umplanen und neue bürokratische Rechtslagen schaffen oder abschaffen müssen.

Walter: Ein Gleichgewicht zwischen den Nutzungen ist in jedem Fall erstrebenswert. Das hierfür notwendige Flächenverhältnis muss für jede Stadt individuell betrachtet werden. Jede Stadt hat eine andere Bedeutung für die Region. Sie hat ihre spezielle Lage und Verkehrsanbindung, ihre eigene Handelsstruktur und Zentralitätskennziffer, also ihre eigene Wertung, wie attraktiv die Stadt für den Einzelhandel ist. Unser Flächennutzungsplan in Hamburg zum Beispiel sieht 70 Prozent der Bauflächen für Wohnen vor, auf Büro und Gewerbe entfallen 20 Prozent.

Dass es immer noch eine Trennung zwischen Gewerbe- und Verkehrslärm gibt, ist völlig überholt und wirklichkeitsfremd.

Prof. Jörn Walter, Oberbaudirektor Stadt Hamburg

Wie bewerten Sie die neue Kategorie „Urbanes Gebiet“?

Zuschke: Es markiert einen Durchbruch in den Köpfen und ist die Überschrift für einen Paradigmenwechsel. Aber es gibt inhaltlich noch viel zu tun.

Walter: Es sind viele Themen offengeblieben, zum Beispiel das Lärmrecht: Dass es beispielsweise immer noch eine Trennung zwischen Gewerbe- und Verkehrslärm gibt, ist völlig überholt und wirklichkeitsfremd. Wenn der Lkw vorbeifährt, darf er lauter sein, als wenn er einen Betrieb anfährt. Das passt einfach nicht.

Das heißt, es müssen weitere Gesetze geändert oder ergänzt werden?

Walter: Ja. Wir müssen über die Nutzungskategorien in der Baunutzungsverordnung (BauNVO), über das Lärmrecht im BImSchG und über Dichtewerte sprechen. Betrachten wir einmal das klassische Kerngebiet (MK) in der BauNVO: Innenstädte sind in der Regel MK-Gebiete. Wohnen in Innenstädten ist in dieser Kategorie nur ausnahmsweise zulässig. Wollen wir das wirklich? Im Dialog mit der Bevölkerung erlebe ich es anders. Sie wünschen sich belebte Innenstadtbereiche.

Das Grundproblem ist: Die BauNVO gliedert die Stadt in Kategorien, um Gewerbe von Wohnen zu trennen. Dieses Prinzip der Trennung ist eine Folge der Belastungen aus der Zeit der Industrialisierung. Aber Industrie und Produktion haben sich verändert. Denken Sie an das Ruhrgebiet. Da war früher der Himmel schwarz. Heutige Betriebe verursachen durch den technischen Fortschritt kaum noch Probleme, die nicht beherrschbar sind. Logistik = Lärm und Industrie = Schadstoffe – dieses Bild stellt sich heute weitaus differenzierter dar. Logistik entwickelt neue Wege der Mobilität, Industrie und Produktion sind immissionsärmer und nicht zuletzt durch die Digitalisierung weitaus stadtverträglicher als früher. Das eröffnet ganz neue Chancen für die Reintegration des Gewerbes in der Stadt.

Auch das BImSchG stammt aus den 1950er und -60er Jahren. Die Möglichkeiten, das Wohnen abzuschirmen, haben sich seitdem deutlich verbessert – zum Beispiel durch sehr effektive aktive und passive Schallschutzmaßnahmen. So muss nicht mehr jedes neue Wohngebäude einen Gewerbebetrieb herausdrängen.

Das alles ist übrigens auch ein Thema der Wirtschaftsverbände, die sich hier viel stärker einbringen und die Ansiedlung von neuem Gewerbe fördern könnten.

Zuschke: Ich stimme mit Herrn Prof. Walter in allen Punkten überein. Ergänzend sollten wir uns auch die Störfallregelungen anschauen. Ist die Seveso-Richtlinie angemessen verrechtlicht, um wirklich gute Nachbarschaften zwischen Gewerbe und Wohnen zu schaffen? Außerdem: So, wie die Umweltverträglichkeitsprüfung im § 13 a BauGB formuliert worden ist – ein Paragraf, der eigentlich der Beschleunigung von Bebauungsplanverfahren dienen soll –, verlängert es den Prozess wieder. Formell entbürokratisieren wir uns, inhaltlich packen wir immer noch ein Thema drauf. Ich erinnere hier nur an die hochkomplexen Strukturen der Landesbauordnungen und der Ortssatzungen. Da wird vermeintlich formell liberalisiert, inhaltlich müssen aber immer mehr Fragen rechtlich durch Gutachten abgesichert werden. Das belastet Planer und Bauherren gleichermaßen.

Aufgrund der immer knapper werdenden Flächen werden die Städte in Zukunft nach innen wachsen müssen.

Welche Rolle spielt für Sie in Hamburg und in Düsseldorf Gewerbe in der City und in innenstadtnahen Bereichen?

Walter: Eine große – mit lokalen Besonderheiten aus der Historie. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich im damaligen Gängeviertel eine enorme Verdichtung von Wohnen, vermischt mit kleinteiligem Gewerbe. Nach dem Ausbruch einer Cholera-Epidemie (Anm. der Red.: durch mangelhafte Versorgung mit sauberem Trinkwasser) wurden diese Gebäude nach und nach abgebrochen. Hamburg entwickelte sich in der Folge zunehmend zur Verwaltungsstadt.

Die HafenCity war nach der funktionsgetrennten Stadt der 1960er, -70er und -80er Jahre eines der ersten innerstädtischen Großprojekte Hamburgs mit dem Ziel der integrierten Flächennutzung: Hier sollte eine feinkörnige, vertikale und horizontale Mischung an Wohnraum und Arbeitsplätzen geschaffen werden – flächeneffizient bei relativ hoher Dichte mitten in der Stadt. Gemischt und kleinteilig – das bleibt auch weiter unsere Strategie für Hamburg.

Zuschke: Bei uns in Düsseldorf gibt es zig Konversionen, Ergänzungen und Neustrukturierungen. So entsteht hinter dem Bahnhof beispielsweise zurzeit ein neues Wohngebiet in Nachbarschaft zu Industrie und dem intensivsten Verkehrsknotenpunkt. Am Vogelsanger Weg sollen gewerbliche Ansiedlungen wie Speditionen und metallverarbeitende Industrie erhalten bleiben und Wohnen darum herum wachsen. Hier planen wir in Meilensteinetappen, jede funktioniert für sich. Das wird auch für uns eine Lernkurve: Funktioniert das oder muss man die Situation noch einmal neu bewerten?

Das Zusammenführen von Wohnen und Arbeiten und die Verfügbarkeit von Bildungs- und Freizeiteinrichtungen bei guter und robuster Infrastruktur stabilisieren das Zusammenleben. So wird die Gesellschaft in Balance gehalten. Wir haben bisher die Trennung der Funktionen sowie „die Einkaufsstadt“ und „die Erlebnisstadt“ im Fokus gehabt. Wir haben weniger das Unspektakuläre, Normale beachtet, nämlich die Aufgabe, eine Verbindung zwischen Wohnen und Arbeiten zu schaffen. Für mich als Dezernentin ist genau das der Auftrag. Ich freue mich auf jedes Gebiet, das so vielschichtig ist, dass man Gewerbe und andere städtische Funktionen irgendwie mit Wohnen zusammenbringen muss.

Wie sieht die Stadt der Zukunft – sagen wir in 50 Jahren – aus?

Zuschke: In der Stadt der Zukunft ist man durch bessere Durchmischung weniger gestresst – weil Arbeiten und Wohnen zu „Leben“ zusammengerückt ist. Wandel wird als etwas Positives verstanden. Der Flächenverbrauch ist kleiner geworden, weil die Stadt hauptsächlich nach innen gewachsen ist und im positiven Sinne verdichtet wurde: Das heißt, neben dichten Quartieren gibt es auch viel Raum zum Leben. Lebenslange Bildungsmöglichkeiten bringen alle Altersschichten zusammen. Die Stadt hat trotz hoher Dichte ein Höchstmaß an qualitätvollen Räumen. Die Menschen gehen gerne auf die Straße, es gibt keine Angstgebiete. Die Mobilitätslandschaft hat sich komplett verändert: mit mehr Freiheit und Flexibilität. Das meine ich nicht ideologisch. Ich setze auf Innovation und die eigene freie Entscheidung aufgrund von Wahlmöglichkeiten. Außerdem hoffe ich, dass in 50 Jahren die neuen Bäume so groß sind, wie die, die jetzt Baumaßnahmen zum Opfer fallen müssen.

Walter: Auf jeden Fall gibt es sehr viel mehr Mischung. Sie ist deutlich umweltfreundlicher, grün, mit umweltverträglicher Mobilität und guten Freizeitmöglichkeiten.

Unserem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, da bin ich sicher, können wir auf nachhaltige Weise begegnen: Wir haben noch enorme Reserven in den Städten, die zu urbaner Dichte mit mehr Mischung entwickelt werden können. Bestimmte Gewerbecluster können sich nur im Austausch und in einer gewissen Dichte entwickeln. Das reduziert auch den Flächenverbrauch und vermeidet die Versiegelung neuer Grün- und Agrarflächen.

Sie klingen beide sehr optimistisch …

Walter: Das bin ich tatsächlich. Das 21. Jahrhundert kann, muss und wird das Jahrhundert der Nutzungsmischung in den Städten werden! Monostrukturen sind schlicht der falsche Weg. Wir Planer haben die Aufgabe, die Nutzungen wieder zusammenzubringen. Neue Technologien tun ihr Übriges. Gewerbe wird sich weiter verändern und immer sauberer werden. Unser Mobilitätsverhalten wird sich ändern. Das Statussymbol Auto wird künftig eine eher funktionale Rolle spielen, „Besitzen“ tritt gegenüber „Benutzen“ in den Hintergrund. Ohne allzu große pädagogische Maßnahmen wird es zu Veränderungen kommen, die die Lebensqualität in den Städten erheblich verbessern.

Zuschke: Wir neigen normalerweise zu sehr dazu, uns auf die Probleme zu konzentrieren. Ich sehe Wandel und Entwicklung als Geschenk und Chance, sich positiv zusammenzuraufen. Aber wenn ich noch einen Appell loswerden darf: Städte müssen stärker bei der Mobilitätswende unterstützt werden. Es wird so getan, als wären Luftreinhaltung und Lärmminderung – also schwindende Lebensqualität – ein akutes Problem der Kommunen. Aber: Nicht nur die Kommunen haben ein Problem, sondern wir alle. Es geht darum, dass wir gesund leben. Landesweit und weltweit. Stadtgestaltung geht also nur gemeinsam und nur integriert.