Verschwommene Darstellung eines Gehwegs vor einer Einfamilienhaussiedlung

Speckgürtel: Wenn das Land die Stadt entlastet

Portraitfoto von Susanne Heck, Leiterin Marketing & Kommunikation
Wir haben in der Stadtentwicklung sehr gegensätzliche Phasen erlebt: Mal wollten die Menschen raus aus der Stadt – ins Umland, ins Grüne.

In den 1960er-Jahren beispielsweise schwappte die Welle der Suburbanisierung über die europäischen Metropolen: Die heute zuweilen als altmodisch belächelten Reihenhaussiedlungen schossen wie Pilze aus dem Boden. Und dann wollten alle wieder hinein in die Zentren, vor allem nach der Jahrtausendwende suchten viele ihr Glück in den Großstädten.

Suburbanisierung versus Reurbanisierung, Ausdehnung versus Kompaktheit. Grundsätzlich findet beides durchaus gleichzeitig statt, doch meist überwiegt ein Trend. Diese Entwicklung war und ist abhängig von vielen Aspekten: von der Attraktivität der Stadtkerne und der Gemeinden im Speckgürtel, von der Lebensphase derjenigen, die auf der Suche nach einem neuen Raum für ihren Lebensmittelpunkt sind sowie von der Anbindung des Umlands an die Kernstadt. Dabei ist zu bedenken, dass für Unternehmen und ihre Büros oder Produktionsstätten die beschriebenen Wanderungsbewegungen zum Teil ebenfalls gelten.

Und welche Richtung dominiert heute? Oder erleben wir gerade die angesprochene Gleichzeitigkeit? Auf der einen Seite heißt es, wir befänden uns im Jahrhundert der Städte – auf der anderen Seite sind die Wohn- und Gewerbeflächen dort knapp und viele Menschen wandern tiefer in die Speckgürtel.

Die neue Landliebe: Immer mehr Menschen zieht es raus in die Speckgürtel der Metropolen

Push- und Pull-Faktoren sprechen für das Umland

Als erster Annäherungspunkt für diese Fragen gilt: Private Haushalte und Betriebe beziehen dort ihren Standort, wo ihre Flächenansprüche am besten befriedigt werden. Das ist derzeit vermehrt außerhalb der Kernstadt der Fall. Und das wird sich auf absehbare Zeit auch kaum ändern. Die eingangs erwähnten geringen Flächenreserven sowie hohe Boden- und Mietkosten in den Zentren sind die treibenden Kräfte der Abwanderung von Haushalten und Betrieben aus der räumlichen Enge der Kernstädte in den weiteren Verdichtungsraum, also ins Umland. Sind es also nur Push-Faktoren, die Menschen und Betriebe nach außen verdrängen?

Der Pull-Faktor „Lebensqualität“ lockt auch junge Leute ins Umland – Innovationsfähigkeit der Standorte vorausgesetzt.

Mehr als der Anspruch an verfügbare und bezahlbare Wohn- und Betriebsflächen scheint am Stadtrand oder im Umland auf den ersten Blick nicht erfüllt zu werden. Auf den zweiten Blick jedoch wird klar, dass zahlreiche kleinere Städte und Gemeinden, die sich im Speckgürtel einer großen Agglomeration befinden, längst am Pull-Faktor „Lebensqualität“ arbeiten. Dabei beschränkt sich dieser Faktor längst nicht nur auf möglichst viel Grün und familienfreundliche Freizeitangebote. Zeitgemäße Mobilitätskonzepte und ein lokales Jobangebot gehören mancherorts ebenfalls dazu und ziehen vor allem jüngere Menschen an. So wundert es nicht, dass die Wirtschaftsforscher der Prognos AG für ihren Zukunftsatlas neben demografischen Wanderungsbewegungen auch die Innovationsfähigkeit (inklusive Patentdichte) der jeweiligen Standorte analysieren. Das Ergebnis für das Jahr 2019: Einige Speckgürtel können es durchaus mit den Metropolen aufnehmen. Mit Böblingen, Starnberg und Erlangen waren gleich drei Landkreise in unmittelbarer Entfernung zur Großstadt unter den Top-Ten-Ergebnissen.

Doch welche Voraussetzungen müssen Regionen mitbringen, damit sie eine „echte“, langfristig attraktive Alternative zur Stadt sein können? Wann muss man sich am Angebot der nahen Stadt orientieren und wo darf man das Anderssein kultivieren? Sind die Regeln für eine lebendige Stadt auf funktionierende „ländliche“ Quartiere übertragbar? Für welche Aufgaben sollten sich Kommunen zusammenschließen? Kann es oder sollte es zu einer Eigenständigkeit des suburbanen Raums gegenüber der Kernstadt kommen?

Umland und Stadt können sich ergänzen

Wichtig bei diesen Fragen ist, dass sie nicht dualistisch betrachtet werden. Wenn konstruktive Lösungen gefunden werden, kann ein Umland seine A-Stadt dauerhaft ergänzen. Das Umland läuft dabei zudem weniger Gefahr, dass sich der Wanderungstrend perspektivisch wieder umkehrt. Es geht also um soziale und ökonomische Stabilität der gesamten Region – von der Peripherie bis in die Zentren.

Auch B- und C-Städte, die nicht mehr im unmittelbaren Speckgürtel liegen, können von der Suburbanisierung und dem gegenwärtigen Wanderungstrend ins Umland profitieren und ihn zum Vorteil der Region verstetigen. Um eine sinnvolle Wechselwirkung zwischen Metropole und Umland zu schaffen, gehört auch die Frage, wie man mit großen Entfernungen und Pendelströmen umgeht: Gependelt wird zum und vom Arbeitsplatz, aber auch zu und von Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die eben meist in den großen Städten besucht werden.

Schlüsselfaktor Verkehrsinfrastruktur

Um die Pendelströme nicht nur auf der Straße, sondern auch auf der Schiene abbilden zu können, braucht es eine bessere Vernetzung der Verkehrsinfrastruktur über Gemeindegrenzen hinweg. Die S-Bahn- und RE-Strecken müssen ausgebaut, die Geschwindigkeiten und die Taktraten erhöht werden. Auch der ÖPNV über die Straße (zum Beispiel mit Bussen) und die Anbindung für Pkw bleiben wichtig. Gut funktionierende Verkehrstrassen sind elementar, um Standorte zu einer Region zusammenzufügen und um Unternehmen und Menschen dauerhaft zu binden – ein echter Pull-Faktor.

Ohne starkes Datennetz kein moderner Arbeitsplatz

Ein elementarer Aspekt, um Menschen an einem Standort zu halten, ist natürlich auch die Möglichkeit zu arbeiten. Will man neue Arbeitskräfte in ländliche Regionen ziehen, so ist eine der wichtigsten Voraussetzungen ein leistungsfähiges Datennetz. Damit können sich Unternehmen oder einzelne agile Projektteams komplett in der Peripherie ansiedeln. Und im Umland lebende Berufstätige verbinden sich über VPN oder Cloud mit ihrem Bürostandort in der City. In jedem Fall ist durch die Coronakrise nun auch für Skeptiker erlebbar geworden, dass nicht jede angestellte Person fünf Tage in der Woche in die Stadt pendeln muss, um produktiv zu sein.

Wie nötig ein digitaler Infrastrukturausbau ist, dazu lieferte Prognos im Jahr 2018 mit dem sogenannten Digitalkompass aufschlussreiche Ergebnisse: In die Rangliste der Top-20-Regionen, die für den digitalen Wandel bereit waren, haben es nur fünf Landkreise geschafft – und diese befanden sich allesamt im direkten Umfeld von Metropolen wie München oder Stuttgart.

Agile Projektteams und Startups suchen moderne Arbeitsplätze mit leistungsfähigen Datennetzen.

Gerade in den ostdeutschen Gemeinden ist neben den demografischen Problemen der Abwanderung und Alterung die mangelnde digitale Ausstattung eine Wachstumsbremse. So werden keine digitalisierungsaffinen Fachkräfte in die Region gezogen – der Auswertung von Prognos zufolge ein weiterer wichtiger Faktor, um im Standortwettbewerb des Umlands zu punkten. Es ist also kein Wunder, dass die digitale Kluft immer weiter wächst, denn junge Talente siedeln sich da an, wo sie nicht allzu lange auf den Download ihrer Arbeitsdaten (oder den Streamingvorgang ihrer Lieblingsserie) warten müssen.

Drei Forderungen statt eines Fazits

Wenn das Umland die Metropolen also tatsächlich entlasten soll, genügt es nicht, sich allein darauf zu verlassen, dass es dort mehr bebaubare oder revitalisierbare Flächen gibt. Stattdessen stehen drei Forderungen im Mittelpunkt, denen die Kommunen genau wie die Vertreter der privaten Wirtschaft folgen sollten, um das Zusammenspiel zwischen Kernstadt und Umland zu verbessern:

  • Erstens: Eine bessere Verkehrsinfrastruktur muss her, die eine effiziente Vernetzung im gesamten Ballungsgebiet ermöglicht.
  • Zweitens: Das Umland braucht eine belastbare digitale Netzinfrastruktur und die Bereitschaft, neue Arbeitsformen und Betriebe zuzulassen, um die lokale Jobsituation zu verbessern.
  • Drittens: Umlandgemeinden müssen stärker auf den Faktor Lebensqualität achten, um echte Alternativen zur Metropole zu schaffen.

Wie genau dies in den Mittelzentren, aber auch in den ländlichen Gebieten geschehen könnte, erfahren Sie in unseren Expertenbeiträgen von Prof. Dr. Jörg Knieling „Warum die Kommune mit im Boot sitzen sollte“ und von Susanne Dähner über „Urbane Dörfer“.