Blick in eine Logistikhalle durch ein Tor

Die neue Regionalität von Logistik und Produktion

Portraitfoto von Susanne Heck, Leiterin Marketing & Kommunikation
Während es in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durchaus Forschungsansätze darüber gab, wie sich die weltweiten Supply Chains infolge von Kriegen oder Naturkatastrophen verhalten könnten, wurde die Logistikwirtschaft durch die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen kalt erwischt.

Binnen weniger Wochen wirkten nicht nur die Frachthäfen im Vergleich zur sonstigen Betriebsamkeit geradezu wie ausgestorben – auch die Maschinen und Förderbänder in den Fabriken standen still. Nur wenige Segmente wie etwa die Lebensmittelherstellung und die entsprechenden Lieferketten mögen hiervon eine positive Ausnahme darstellen.

„Die Gespräche mit unseren Kunden aus verschiedensten Branchen zeigen uns, dass wir Unterbrechungen in der gesamten Supply Chain erleben, sowohl bei den Produzenten als auch bei den Logistikern“, fasst Knut Alicke, Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey in Stuttgart, zusammen. „Meist beginnt dieser Stillstand beim Lieferanten und setzt sich dann immer weiter fort bis zum Endverbraucher.“ 

Globale und regionale Lösungen sind gefragt

Eine besondere Unwägbarkeit der Corona-Krise für den internationalen Warenverkehr besteht darin, dass praktisch die gesamte Welt gleichzeitig betroffen ist – sich die konkreten Folgen jedoch von Region zu Region sehr unterschiedlich gezeigt haben und zeigen. 

Corona und seine Folgen: Viele Wochen herrschte Stillstand im Frachthafen

Kuno Neumeier, Geschäftsführer des Logistikimmobilienberaters Logivest, ist sich sicher, dass die gegenwärtige Krise zumindest bei einem Teil der Akteure für ein Umdenken bei den Logistikstrategien sorgen wird: „Die Pandemie zeigt uns schonungslos die Schwachstellen der Globalisierung in Verbindung mit einer Just-in-Time-Mentalität auf. Sowohl für die Automotive-Industrie als auch für andere Branchen im produzierenden Gewerbe standen nur sehr wenige Bauteile vor Ort zur Verfügung und der Produktionsstillstand war nicht mehr abwendbar. Daher erleben wir bereits jetzt, wie sich zahlreiche Marktakteure umorientieren und neue Strategien zur regionalen Warenbevorratung entwickeln.

Dazu gehören vor allem die verstärkte Einrichtung von Pufferlagern, aber auch eine effizientere Produktionslogistik – weshalb entsprechende Logistikflächen einen deutlichen Nachfrageschub erfahren. Dabei handelt es sich in aller Regel um Immobilien in direkter Nähe zur Fertigungsstätte, sodass diese in wenigen Fahrminuten erreichbar ist. Für die urbane Produktion kommen dafür unter anderem gemischt genutzte Gewerbeparks in Betracht, aber es geht nicht allein um die Ballungsräume. Auch für größere, entfernter gelegene Werksareale sind entsprechende Pufferlager gefragt. Zudem wird das Geschäft feingliedriger: Anstatt sich auf einen großen Lieferanten zu verlassen, werden viele Unternehmen mehrere kleinere Aufträge vergeben.“

Kleine Pufferlager zur regionalen Bevorratung von Waren werden künftig häufiger nachgefragt

Digitalität und Regionalität gehen Hand in Hand

Stärker digitalisierte Handels- und Industriezweige und insbesondere die digitalen Vorreiter haben, so Neumeier, in praktisch allen Branchen immense Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten. Oft stehe dies aber in direktem Bezug zur regionalen Präsenz der jeweiligen Unternehmen: „Nehmen wir beispielsweise den Branchengiganten Amazon, der bereits vor Corona sehr stark regional aufgestellt war. Dies war auch eine der Bedingungen, um ein sehr großes Warenangebot in kurzer Zeit zum Endverbraucher zu bringen und sich somit unter den E-Commerce-Akteuren hervorzutun. Viele internationale Konkurrenten konnten hingegen nie so richtig Fuß fassen, allein schon deshalb, weil ihnen die regionalen Flächen dafür fehlen. Amazon hingegen kam dieses logistische Backbone in der Krisenzeit sehr zugute, weshalb die Bestrebungen des Unternehmens, sich noch stärker zu regionalisieren, nur verständlich sind.“

Eine weitere Verbindung zwischen Digitalität und Regionalität ergibt sich dank der Technologien der Industrie 4.0. Während in den 2010er-Jahren die Eliminierung von Zwischenlagern und die Vor-Ort-Fertigung mittels 3D-Druck für viele Marktakteure eher zur Zukunftsmusik gehörte, zeigen sich allerspätestens infolge von Corona die enormen Vorteile dieses Ansatzes. Neumeier sieht hierin für innovative Unternehmen gute Möglichkeiten, die Not zur Tugend zu machen: „Services und Dienstleistungen, die teilweise in Reaktion auf die Pandemie entstehen und beispielsweise Produktionslösungen mit geringeren Losgrößen ermöglichen, haben die Chance, sich langfristig zu etablieren.“

Die Corona-Krise könnte die Industrie 4.0 und damit auch Produktionslösungen mit kleinen Losgrößen befördern

Innovationsschub für Unternehmensimmobilien?

Das Zusammenspiel all dieser Faktoren sorgt auch dafür, dass sich die Nutzerprofile von Immobilien mit Logistikflächenanteil teilweise stark ändern können. Dies gilt sowohl für Big Boxes an den zentralen deutschen Verkehrsknotenpunkten als auch für urbane Immobilientypen. Gerade moderne Gewerbeparks mit Logistik- und Produktionsanteilen sowie andere Formen der Unternehmensimmobilie können zum wichtigen Schlüsselfaktor bei der regionalen Warenbevorratung werden. Erstens eignen sie sich aufgrund der Nähe zu den Innenstädten für zeitgemäße Produktions- und Logistikprozesse auch in kleineren Chargen. Zweitens ermöglicht die Flächenflexibilität relativ kurzfristige Erweiterungen oder Umrüstungen.

Das Supply Chain Management müsste viel stärker datengetrieben gehandhabt werden

Agile Zukunft für den Warenverkehr

Dennoch hängt die Supply Chain nicht allein von der Fläche und dem bisherigen Digitalisierungserfolg ab, sondern auch von der Frage, wie die eigenen Prozesse für die Zukunft geplant werden. Die Unternehmensberater von McKinsey sehen unter anderem eine höhere Agilität und Transparenz bei der Planung von Supply Chains als wichtigste Langzeitaufgabe für die Akteure aus Logistik und Produktion. Die gesamte Lieferkette und ihre Prozesse müssten dafür datengetriebener strukturiert werden – von der Erhebung zusätzlicher Daten in Echtzeit über den stärkeren Einsatz von Robotik bis hin zu selbstlernenden Algorithmen. Auf diese Weise sollten sämtliche Bauteile an allen Standorten und während sämtlicher Transportvorgänge lückenlos getrackt werden können.

Auf Basis eines solchen digitalen Nervenzentrums wäre es dann möglich, nicht nur den kompletten Überblick zu behalten und Lieferrisiken frühzeitig zu erkennen – sondern auch die Prozesse sehr viel schneller anzupassen als bisher. „Das Ziel muss es sein“, konstatiert Alicke, „die wichtigen Planungsgrundlagen für die Organisation der Supply Chain nicht mehr vierteljährlich oder monatlich auszuarbeiten, sondern womöglich erst zweiwöchentlich und später täglich. Dafür brauchen wir robuste Datenverbindungen zwischen Beschaffung, Produktion, Auslieferung und Verkauf – und einen Informationsabruf in Echtzeit.“